“Ruşen, bis du es?”
“Ja, Opa, ich bin es. Ich bin aus Österreich gekommen, nur um dich zu besuchen.”
Das Herz rast, den Tränen nahe. Hoffnung keimt auf, wo keine sein dürfte. Kämpft er sich zurück? Hat er die Nebel durchstoßen und ist zu den Seinen zurückgekehrt? Ja. Das muss es sein. Wenn jemand dieser Krankheit Herr werden kann, dann mein Opa. Ein Prachtkerl, ein Kämpfer. Er kam mit 12 Jahren als Vollwaise nach Istanbul und biss sich Zeit seines Lebens durch. Nichts konnte ihn niederringen, nicht einmal der Koreakrieg. Er wirft die Fesseln seiner Erkrankung ab, wie er durch harte Arbeit die Last der bitteren Armut abgeworfen hatte. Ja, mein Opa ist eine medizinische Sensation. Die Ärzte hatten gesagt, es würde unaufhaltsam sein, grausam zuweilen und doch wussten sie nichts von diesem Kämpferherz, das noch immer wild in seinem Brustkorb schlug. Der Schrei seines Geistes musste die Nebel durchstoßen haben. Ja. Bitte.
“Wer bist du, junger Mann?”
Wie eine Klinge schneiden mir seine Worte durchs Herz. Dieser kurze, klare Moment ist weg. Ah, Opa. Du hattest all deine Kraft aufgebracht, um für einen kurzen Augenblick ans Licht der Welt zu treten, nur um von deiner Heimsuchung umgehend wieder verschlungen zu werden. In deinen Augen sehe ich, dass du nicht mehr da bist. Nur dein Leib leidet weiter. Grausam. Diese wenigen lichten Momente sind so kostbar wie sie selten sind und immer seltener werden. So bitter es scheint, so sehr ist es eine letzte Hoffnung darauf dem geliebten Menschen noch Dinge zu sagen, die man all die Jahre nie gesagt hatte. Immer in der Hoffnung – immer – die Worte würden schnell genug gesprochen, um noch zu ihm durchzudringen. Jedes Wort könnte das letzte sein, dass man ihm mit auf den Weg gibt. Jede Umarmung die letzte Ration Liebe, die er in seinem nebligen Gefängnis brauchen kann, wie ein Durstender das Wasser braucht.
Aber es ist nicht aufzuhalten. Die Ärzte irren sich nicht. Es wird dunkler und dunkler, das Licht der Seele ist nur noch eine flackernde Kerze im Herzen einer finsteren, einsamen Nacht. Der Tod kann Erlösung bringen. Mein Opa kämpfte auf verlorenem Posten. Für jeden kostbaren Augenblick der Klarheit, musste er bezahlen. Jedes Mal wurde der Nebel nach so einem Moment grauer, fester, stärker. Dennoch kämpfte er, um den Seinen ein paar wenige Augenblicke zu schenken. Daran glaube ich ganz fest. Ein paar, kurz Momente, damit wir ihm noch Dinge sagen konnten, die wir vor seiner Krankheit nie gesagt hatten. Worte der Liebe, der Sehnsucht, aber auch des Bedauerns, des Scheiterns. Dem geistigen Verfall folgte der körperliche, das ist die letzte Stufe dieser Krankheit. Am Ende wog mein einst stattlicher Großvater nur noch 38 Kilo. Sein Geist war vollends entglitten, sein Körper ertrug diese Einsamkeit nicht. An einem kalten Dezembertag wachte meine Oma frühmorgens auf und mein Opa war friedlich entschlafen. Das Leiden hatte ein Ende gefunden, der Kampf war vorbei. Sein wildes Herz war verstummt. Es hatte ihm treu gedient.Die Nachricht von seinem Tod ließ auch mich verstummen. Bis heute. Und jetzt schreiben sich die Worte wie von selbst, meine Finger fliegen über die Tastatur. Löst sich die Last der Trauer von meinem Herzen oder braucht man einfach seine Zeit, um Trauer auf diese Weise zu verarbeiten? Ich weiß es nicht. Es tut gut zu schreiben, sich zu erinnern. Denn das ist, was bleibt. Von den geliebten Menschen bleiben Erinnerungen. Und die gilt es zu konservieren, zu behalten, zu verehren. Denn der Tod ist endgültig.
Ich war wie versteinert. Als die Angehörigen und Nachbarn im Innenhof seiner Lieblingsmoschee vor seinem Sarg in Tränen ausbrachen, tröstete ich sie. Meine Trauer lag gut verschlossen auf dem Grund meiner Seele. Mein Großvater hätte es so gewollt. Da bin ich mir sicher. Ein steinernes Schloss verbarg meine Trauer, eine steinerne Maske aus Trotz meine Tränen. Ich war so versessen darauf an diesem Tag zu funktionieren und anderen eine Stütze zu sein, dass mein Herz kalt und steinern geworden war. Nichts sollte es an diesem Tag durchdringen. Nichts. Ich kann mich noch gut erinnern, als wir draußen vor der Bestattungszentrale darauf warteten, dass wir eingelassen werden. Um uns herum waren viele andere Familien, die bittere Tränen vergossen. Manche fielen in Ohnmacht, andere weinten still in sich hinein. Ich war pflichtbewusst. So seltsam sich das auch anhören mag. Ich wartete also direkt am Eingang bis ein Beamter den Namen meines Opas in den Hof rufen würde. Während ich abgesondert von der Familie auf den Moment wartete, ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich abschweifte. Ich musste mich zusammenreißen, damit die losen Gedanken nicht auch Trauer mit auf die Oberfläche spülten. Ich war um Fassung bemüht, ich musste einfach funktionieren. Ja, das war meine Pflicht.
Und auch wenn ich mich immer wieder dabei erwische wie ich in Istanbul an seiner Lieblingsmoschee vorbeigehe und in den Gesichtern der älteren Gläubigen ihn zu erkennen trachte, so weiß ich doch, dass er nicht mehr da ist. Diese Moschee ist in meinen Augen verwaist, auch wenn es voller Gläubiger ist. Auch seine Freunde von einst, sitzen nicht mehr gemütlich auf den Bänken vor der Moschee. Auch sie haben diese Welt verlassen. Die meisten von ihnen liegen gemeinsam mit meinem Großvater auf dem Friedhof. Nur wenige hundert Meter von ihrer geliebten Straße entfernt, in der sie Jahrzehnte lang gelebt hatten. Sie waren im Leben Nachbarn und sind Nachbarn im Tode geblieben.
