Viele Jahre ist es nun her, dass mein Opa verstorben ist. Es war kurz nach Weihnachten und ich lag mit erheblichen Blessuren im Krankenhaus, als mich die Nachricht erreicht hatte. Bei seinem Begräbnis im Dorf konnte ich nicht dabei sein. Sein Sarg wurde von anderen getragen. Bis heute neide ich es jenen, deren Schultern diese Last spüren durften.
Der Friedhof ist gleich am Dorfeingang, im Schatten saftig-grüner Bäume.
Alte, geborstene Grabsteine zeugen davon, dass selbst in kleinen Dörfern die Toten vergessen werden. Und vergessen ist schwer, denn der Friedhof liegt direkt an der Straße,
die in die nahe Bezirkshauptstadt führt. Man fährt also an seinen Verwandten vorbei,
wann auch immer man in die große Stadt muss.
Das alte Bauernhaus meiner Großeltern steht nicht mehr. Der Steinofen meiner Oma, die uns täglich frisches Brot darin zubereitete, steht nicht mehr. Der kleine Garten im Rücken des Hauses, das uns jeden Sommer feuerrote Tomaten und giftgrüne Pepperoni schenkte, steht nicht mehr. Ich will die Schuld nicht auf die älteren Söhne meines Großvaters schieben, ich hätte sie schlicht von ihrem Irrsinn abhalten müssen. Uns Kindern war nicht nicht einmal ein letzter wehmütiger Blick auf das Haus unserer Erinnerungen gegönnt.
Aber keine Zerstörtung ist vollkommen. Ein letzter Rest der steinernen Mauer steht noch. Die Grundfesten der Mauer widersetzten sich so sehr, dass man schließlich aufgab und dafür den Rest des Hauses gründlich abtrug. Aber nicht nur der Stein widersetzte sich, auch die Pflanzen wollten nicht einfach weichen. Ein Granatapfelbaum direkt
hinter der steinernen Mauer, zwischen Steinofen und Brunnen kämpfte und siegte. Er steht heute noch und trotzt seit dem seiner Vereinsamung. Uns Kindern, die wir erwachsen geworden sind, darf er keinen Schatten mehr spenden und seine Früchte bleiben von uns ungepflückt. Aber er harrt aus. Vielleicht hofft er, dass das Leben eines Tages wieder in den Hof einziehen wird, dass neue Kinder seinen Schatten suchen und
von seinen Gaben kosten werden. Wer weiß.
Der Hof ist verwaist, nur die älteren Söhne meines Großvaters haben sich weiter unten im Hof ein hässliches, einstöckiges Haus in grau bauen lassen. Das wiederum trotz jeder Schönheit, selbst die Blumen im Schatten seines Daches wollen nicht recht gedeihen. Ich bin ein Fremder geworden. Der Herd meiner Großeltern ist erloschen.
Dennoch fahre ich so oft ich kann ins Dorf, halte am Friedhof an, gehe zu Fuß über den zentralen Dorfplatz, setze mich ins Cafe und zwar auf den Platz, den auch mein Opa am liebsten mochte, wenn er auf die sommerliche Heimkehr seiner Kinder aus der Fremde wartete. Dann gehe ich die staubige Straße hinauf, vorbei an im Schatten kauernden Hunden.
Der Weg ist nicht weit. Die erste Abbiegung links, vorbei am Prachtbau eines Deutsch-Türken, der sein pompöses Haus ganz in blass-pink hält und schon ist man da. Das Tor ist das gleiche, nur das Sicherheitsschloss haben die älteren Söhne anbringen lassen. Ich trage mich mit der Hoffnung, dass es gegen Diebe und nicht gegen andere Familienmitglieder gedacht gewesen ist. Man öffnet das Tor, bückt sich, um nicht mit dem Kopf anzustoßen und kann das freie Feld sehen, das früher das Heim einer ganzen Familie gewesen ist.
Und da steht er in voller Blüte, der Granatapfelbaum. Ich setze mich in seinen Schatten, der als Kind noch gigantisch wirkte. Seine Früchte sind zierlich, doch makellos. Ich nehme mir zwei Granatäpfel und stecke sie mir in die Tasche. Immer wenn ich im verwaisten Hof bin, tue ich das. Immer in der Hoffnung, dass ich bereits einen Garten habe,
den ich mit den Samen des Granatapfelbaumes beschenken kann. Er würde dann wachsen und wer weiß, eines Tages meinen Kindern und Enkel Schatten spenden.
Auch dieses Jahr fehlt mir ein eigener Garten. Die Früchte nehme ich dennoch mit, um mich daran zu erinnern, warum ich arbeite und mich abmühe. Eines Tages soll der Granatapfelbaum weiterleben können. So Gott will, nächstes Jahr.